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13
Sep
09

Wort-Händel in Shutka

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Es ist später Nachmittag. Eine Gruppe ortsansässiger Roma hat sich vor einem Haus in der Volt Dizni Straße versammelt. Eine hitzige Debatte ist im Gange. Wild gestikulierend reden Männer und Frauen durcheinander. Sie streiten sich über Rang, Status und Daseinsberechtigung ihrer Dialekte. Insgesamt besitzt die Roma-Zunge (romani chib) über 60 Dialekte. Allein in Shutka werden mehr als ein Dutzend davon gesprochen: Madjuri, Arli, Djambasi, Topaanski, Kovachija, Barutchi, Ashkalija, Xoraxane, Gavutne. Einzelne (Sprecher-) Gruppen behaupten von sich „älter“ zu sein oder „die bessere Sprache“ zu besitzen.

Wenn die Bewohner Shutkas über ihre Sprache debattieren, wiegen sie die Wörter ab, wie Händler ihre Paprika auf dem Markt. Statt Farbe und Reife bestimmen Klang und Alter den Wert der Worte. Die Menge bestimmt wie auf dem Markt auch hier das Gewicht – nicht die Menge an Worten, sondern die Menge an schlagfertigen Argumenten der Wortverfechter ist dabei ausschlaggebend. Ähnlich wie auf dem Markt gleicht die Szenerie rund um die Wort-Händler mit ihrer positiv aufgeladenen Stimmung einer Auktion.

Gerade wird ein neues Wort der Begierde ausgehandelt: Maus, das im Arli-Dialekt kermuso und im Djambasi-Dialekt kandoi heißt, ist der Aufhänger für ein spontanes Improvisations-Theater mit explosiver Handlung. Mit einer guten Portion Pathos und einer buchstäblich bewegenden Verteidigungsrede versucht ein kleiner, alter Mann mit schütterem Haar, die Umstehenden von dem authentischen Klang des Djambasi-Wortes zu überzeugen.

K-a-n-d-o-i. Er lässt das Wort auf seiner Zunge zergehen, lautmalerisch den Klang des Wortes zärtlich mit seinen Händen nachzeichnen, wie ein Liebhaber den Körper seiner Geliebten. Dann schaut er seine Zuschauer provozierend an, als wolle er sagen: „Habe ich euch nicht gesagt, dass nur unseres das Beste sein kann?“ Sein Nachbar wi-derspricht energisch: K-e-r-m-u-u-u-s-o! Mit der Wucht eines kleinen Orkans fegt das Wort aus seinem Mund in das noch leicht verzückte Gesicht seines Gegenübers. Überschwänglich, aber mit unnachgiebiger Bestimmtheit versucht er, das Wort, das gerade seinem Körper entwichen ist, in der Luft zu greifen, wie ein Dirigent, in dessen Körper der Geist der Noten gefahren ist. Für einen kurzen Moment blicken sich die Wort-Opponenten tief und funkelnd in die Augen. Es ist, als ob sie sich gegenseitig des Mundraubes bezichtigten; die rhetorischen Anklagen wiegen schwer.

Selbst wenn sich die Worte ähneln, wie beispielsweise bei Topf, das tendjera in Arli oder tendjerava im Djambasi heißen kann, wird geräuschvoll darüber diskutiert, welche Roma-Gruppe die ältere ist und das Wort als erstes auf den Sprach-Markt geworfen hat. Meistens steht Aussage gegen Aussage, wobei der Begriff der Aussage aussagelos gegenüber dem steht, was sich tatsächlich auf der Sprach- und Konfliktbühne Shutkas abspielt: Schauspiel gegen Schauspiel. Nicht der reine Inhalt der Argumentation ist es, der zählt, sondern vielmehr die Darbietung der Argumentation, ihre Verkörperung. Während in unseren Breiten der körperliche Einsatz in Unterhaltungen dazu benutzt wird, dem Gemeinten Nachdruck zu verleihen, scheint es hier, als würde das Gesagte die Körpersprache unterstreichen. Wer es schafft dem Gemeinten den be-wunderungswürdigsten Ausdruck zu verleihen, steht hoch in der Gunst des Publikums. Für ein publikumswirksames Rezept braucht Bewunderung Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeit Übertreibung. Übertreibung ist deshalb eine der wichtigsten Zutaten der hitzigen Diskussionsbühnen in Shutka.

Auch wenn ich in solchen Momenten neben der aufgekratzten Menschentraube stand, besorgt darüber, dass der lautstarke Streit jeden Augenblick eskalieren könnte, gehörten diese Kontroversen für die Be-wohner von Shutka zur Kommunikation des Alltags. Die Bedeutung der Unterhaltung wird hier buchstäblich ausgeschöpft, denn es bedeutet sowohl eine Konversation zu führen, das Gespräch zu pflegen und in Stand zu halten, als auch sich zu unterhalten im Sinne von Entertainment. Ein Gespräch, so scheint es fast, ist kein Gespräch, solange es kein Vergnügen bringt. Sich zu Vergnügen ist dabei aber nicht gleichbedeutend mit reinem Amüsement. Auch Streit kann, wie im Falle der Wort-Händler, durchaus dem Entertainment dienen, vor allem dem des Publikums. Solche öffentlichen Händel- und Streitzirkel setzen die Show-Befähigung voraus. Hier stehen heimliche und gestandenen Entertainer im Rampenlicht, können ihren Humor, ihre rhetorischen und charismatischen Fähigkeiten, inklusive dem Auskosten des Schimpfwort-Repertoires, unter Beweis stellen. Doch das Streiten über die Sprache dient nicht nur dem Show-Effekt. Vorrangig geht es um die Kommunikation. Und da Roma es lieben zu kommunizieren, ist das Streiten für viele praktisch eine notwendige Konsequenz. Sowohl beim Wort-Handel, als auch beim Wort-Händel geht es um das inbrünstig-energische Feilschen der Worte und darum, dass bestimmte ausgesprochene Worte und damit ihre Träger Macht besitzen.

Da Sprache seit jeher eines der effektivsten Instrumente ist, sich von anderen abzugrenzen, kann sie unter gewissen Umständen der perfekte Nährboden einer fruchtbaren Streit-Diskussion sein. Doch genauso, wie die Bilder einer Kamera kann auch die Sprache zu einer Waffe instrumentalisiert werden. In der Ethnologie wird beispielsweise gelehrt, dass Worte in Kulturen, die ihr Wissen mündlich überliefert haben, so wie es bei den Roma bis in das 20. Jahrhundert hinein noch der Fall war, ein größeres Gewicht hätten. Sie wögen schwerer als die abstrakten Worthülsen in Schrift-Kulturen, weil sie von einer Person gesprochen würden, die ihren Worten ihren Atem, ihre Stimme und ihren eigenen Klang verleiht. Folgt man dieser Theorie, sind Worte Handlungen, Taten, die segnen und heilen können, Leben einhauchen oder töten, dramatisch oder kunstvoll sind, einreißen und aufdecken, das Innere nach Außen kehren.

Es war mitten in der Nacht, als ich von einem ohrenbetäubenden Geschrei aufwachte. Im Nachbarhaus, sprich auf der anderen Seite der Rigipswand, brüllten sich ein Mann und eine Frau so inbrünstig an, dass ich als allererstes eine Ehekrise dahinter vermutete. Wäre ich des Romani genug mächtig gewesen, hätte ich jedes Wort verstanden. So begriff ich lediglich rudimentäre Wortfetzen zweier sich überschlagender Stimmen und das sonore Schnarchen meines Gastvaters im Nebenzimmer. Nichts schien seine Nachtruhe zu stören. Auch nicht die in der Zwischenzeit wach gewordenen Hunde aus der Nachbarschaft, die sich im Takt mit dem lautstarken Streitgespräch die Seele aus dem Leib kläfften. Ich war hellwach und weit davon entfernt, mich über eine schlaflose Nacht zu ärgern. Im Gegenteil: Die Geräuschkulisse hatte etwas Fas-zinierendes. Wie in einem Theater für Blinde lauschte ich im Dunkeln gebannt und angestrengt einem Streit, der immer mehr außer Kontrolle zu geraten schien.

Die Anziehungskraft, die das leidenschaftliche Wortgefecht auf der anderen Seite der kartondicken Wand auf mich ausübte, teilte ich of-fensichtlich mit ein paar anderen Bewohnern der Nachbarschaft. Denn auf der gegenüberliegenden Straßenseite knipste jemand das Licht an, ein Eisentor quietschte, Silhouetten huschten über die Straße. In einer angespannten Schweigesekunde hörte ich Gemurmel. Ich schaute aus dem Fenster. Eine kleine schaulustige Menschenmenge hatte sich um das Haus der Streitenden versammelt. Während sie anfangs noch darum bemüht waren, ihre Neugierde möglichst unauffällig, bzw. tuschelnder- und kichernderweise zu befriedigen, mischten sich innerhalb kurzer Zeit immer wieder laute Kommentare des Publikums unter das Wortgefecht des Paares, das sich, sollte es die Anwesenheit der Zaungäste bemerkt haben, in keiner Weise stören ließ. Im Gegenteil, je mehr Publikum die Straße vor dem Haus bevölkerte, desto intensiver und lauter wurde der Streit.

Mittlerweile näherten sich die Streithähne dem fünften Höhepunkt: Während der Hysterie der Frau nun eine immer kleinlautere Stimme folgte, rastete der Mann buchstäblich aus, wurde aggressiver. Meine anfängliche Begeisterung verpuffte schlagartig. Ängstlich verkroch ich mich unter meiner Bettdecke. Dann knallte etwas, es hörte sich an, wie das Schlagen einer Hand auf nackte Haut, aber sicher war ich mir nicht. Streiten können sie gut, dachte ich noch, genauso professionell, wie wir immer mutmaßen. Dann fiel ich in einen unruhigen Schlaf.

In den folgenden Wochen wurde ich Zeuge weiterer ausschweifender Streitereien. Obwohl die meisten Auseinandersetzungen sich innerhalb der vier Wände abspielten, waren sie aufgrund der nach außen dringenden Lautstärke und des Publikums, das sich in der Regel selbst einlud, um der Szenerie beizuwohnen, eigentlich mehr ein öffentliches Ereignis als ein privates Intermezzo. Die Regelmäßigkeit und der Unterhaltungswert dieser Happenings veranlasste mich zu der Überlegung, dass es sich dabei um eine rituellen Akt handeln könnte, der in der Sache vergleichbar mit diversen Familienabenden vor dem Fernseher in unseren Breitengraden ist, auch wenn der interaktive Faktor bei letzterem eher in das Hintertreffen gerät. Geschaut wird, was bewegt, und das sind schließlich meistens die Dinge, von denen Menschen selbst betroffen sind: unser täglich Alltag. Könnten die uraufgeführten Tragödien auf den Häuserbühnen Shutkas etwa aus dem selben Grund so populär sein,weshalb Doku-Soaps oder Seifenopern in unseren Breitengraden so hohe Einschaltquoten erzielen? Immerhin ist das reale Schauspiel sowohl in Shutka, als auch auf den Mattscheiben dieser Welt auf wenige Personen konzentriert, mit denen sich die Zuschauer indentifizieren können, es werden „alltägliche“ Menschen in außergewöhnlichen Situationen beobachtet und der Inszenierungsgrad ist nicht unbedingt niedrig angesetzt.

Die grundlegende Verbindung: Beide Darstellungsformen, sowohl die virtuellen, als auch die in Fleisch und Blut auftretenenden Protagonisten dienen gleichermaßen der Unterhaltung als auch der Information und werden vorwiegend als Zeitvertreib wertgeschätzt. Während unsere von Infotainment und Waren übersättigte Gesellschaft derweil nicht müde wird, sich ihre tägliche Ration (Ent-)Spannung und Katharsis auf Knopfdruck zu Hause abzuholen, spielt sich der spannende Film in Shutka auf der Straße ab. Hier wird gelitten, geschrien und gelacht. Privatsphäre gibt es nicht. Und selbst, wenn einer einschlägigen Szene nur wenige Zeugen beigewohnt haben: auf Tratsch ist als Informations-überträger mindestens so viel Verlass wie auf Rundfunkwellen.

Aber auch in Shutka wird viel ferngesehen. Jeder, der etwas auf sich hält, hat einen virtuellen Theaterapparat zu Hause stehen. Der Fernseher ist ein klassisches Status-Symbol. Auch wenn Soap-Operas mit der Popularität der pittoresk-pathetischen Bollywoodfilme nicht mithalten können, wird ihnen besonders von der jüngeren Bevölkerung viel Beachtung geschenkt. Auch die in der latino-amerikanischen Oberschicht spielenden Soaps wecken bei den Jugendlichen Shutkas Sehnsüchte nach einer vermeintlich besseren Welt. Diese “bessere Welt” hat es immer-hin geschafft, dass sich meine beiden Gastschwestern einen passablen Spanisch-Wortschatz angeeignet haben.

Mehrsprachigkeit ist in Shutka im übrigen Standard. Neben einem oder mehreren Romani-Dialekten beherrschen die meisten Roma Maze-donisch und noch mindestens eine weitere Sprache wie Türkisch, Serbo-kroatisch, Albanisch oder Englisch. In beinahe allen Familien hat sich mindestens ein Mitglied für einen mehr oder weniger langen Zeitraum als Wirtschafts-Flüchtling oder aufgrund der instabilen politischen Lage in Ex-Jugoslawien in einem EU-Land aufgehalten und spricht daher meistens noch Schwedisch, Belgisch, Französisch oder Deutsch – so auch mein Gastvater, der sieben Jahre im Ruhrgebiet gewohnt hat und fließend deutsch spricht. Sein Sohn Abraham, ein 18-jähriger “Gangsta-Rapper”, hat sich, aufgrund seines Faibles für US-amerikanischen Rap, die Texte seiner Idole im Internet beigebracht. Beide haben mir während meines Aufenthaltes in Shutka wertvolle Übersetzungsdienste geleistet und mir auf der langen Straße der Roma-Zunge einige Steine aus dem Weg geräumt. Mit Sprache zu handeln, mit Worten zu jonglieren, Worte als Noten zu begreifen, die sich zu beliebigen Kompositionen zusammenstellen lassen, habe ich mir schnell bei den Roma in Shutka abgeschaut.

Es kam vor, dass ich innerhalb von zehn Minuten fünf Sprachen vermischte, fehlende Worte aus anderen uns bekannten Sprachen ausborgte, mich auf Englisch unterhielt, mazedonische Worthäppchen mit meinen rudimentären Wortfetzen aus dem Romani garnierte. Eine Strategie von Viel-Reisenden, die im Romani schon lange Tradition hat: Je nach Gegend ist die Roma-Zunge regional eingefärbt und gespickt mit Lehnworten aus der Mehrheitsbevölkerung. Im Fall der unterschiedlichen Romani-Dialekte in Shutka sind es vor allem Wörter aus dem Mazedonischen und anderen südslawische Sprachen, die sich im Wörter-See des Romani tummeln. Nicht umsonst dachten viele Menschen in Europa früher, als sie Romani hörten und den fremden Klang in keine der ihr bekannten Sprachen einordnen konnten, obwohl sie gleichzeitig Worte aus ihrer eigenen Sprache vernahmen, dass es sich um eine Geheimsprache handeln würde. Doch Romani ist weder Geheimsprache,und noch weniger Jargon, als eine eigenständige Sprache, die sich aus dem alt-indischen Sanskrit ableitet.

Geht man von der linguistischen These aus, dass die Roma-Zunge in unzähligen Dialekten mehr als 1.300 Jahre in der Diaspora überlebt hat, erscheint es logisch, dass konsequente Abgrenzungsprozesse der unterschiedlichen Roma-Gruppen, vor allem gegenüber der Mehr-heitsgesellschaft, stattfinden mussten. Nichtsdestotrotz ist es erstaunlich, dass, obwohl die Roma-Zunge durch eine Vielzahl von Ländern gereist ist und griechische, türkische, persische etc. Wörter die Sprache beeinflusst haben, die Sprache einen höheren Anteil so genannter „einheimischer“ Vokabeln als beispielsweise das Englische aufweist, bei dem mehr als zwei Drittel des Wortschatzes aus dem Französischen, Lateinischen oder anderen Sprachen stammt.

Wie konnte sich die Sprache, die erst seit einem Jahrhundert schriftlich fixiert wird, auf ihrer langen Gratwanderung zwischen Abgrenzung und Einbindung so konsequent und facettenreich halten?

Ist es letztlich die Abgrenzung der verschiedenen Roma-Gruppen un-tereinander, die viel wichtiger ist als die gegenüber der Mehrheitsbevöl-kerung? Auch wenn man heute nicht mehr, wie früher Sprachgruppen Berufsgruppen zuordnen kann und es mittlerweile auch Leute gibt, die als Schmiede arbeiten wollen, obwohl sie nicht als Kovachi (Schmiede) geboren wurden, spielen offensichtlich die einzelnen Dialekte der unterschiedlichen Gruppen, besonders im Wort-Händel, eine stark gemeinschaftsstiftende Rolle.

Obwohl mein Gastvater beispielsweise unterschiedliche Dialekte beherrscht, fühlt er sich dem Djambasi am stärksten verbunden und bezeichnet sich selbst als Djambasi. Sein Vater, der in seiner persönlichen Werte-Skala einen Platz noch vor Gott einnimmt, hatte mit ihm als Kind Djambasi gesprochen. Das Besondere an den Djambasi umschreibt er so: „Viele Menschen, die Djambasi sprechen, hatten früher viel Gold, sie waren reich und dachten an das Morgen, sie arbeiteten für die Zukunft. Heutzutage versuchen viele Arli so zu leben, wie es die Djambasi früher taten. Ich akzeptiere beide Dialekte, aber mein Temperament sagt mir, dass ich Djambasi sprechen soll.“ Welchen besonderen Stellenwert der Dialekt in seinen Augen einnimmt, macht sich daran bemerkbar, dass er lediglich mit seinem jüngsten Sohn, der bei den Roma in Shutka die wichtigste Rolle einnimmt, weil er später einmal die Familie versorgen wird, konsequent Djambasi spricht.

Manchmal kommt es vor, dass während einer Unterhaltung, in der unterschiedliche Dialekte gesprochen werden, Worte nicht verstanden werden oder in der eigenen Gruppe nicht bekannt sind. In solchen Fällen wird gerne auf das „grammatikalische Romani“ verwiesen. Es besteht nach Angaben von Angehörigen unterschiedlicher Roma-Gruppen hauptsächlich aus Wörtern des Arli-Dialekts, wird deshalb auch „Arli International“ genannt und scheint sich langsam, auch außerhalb der Dunstkreise einschlägiger Roma-Aktivisten und Sprachstandardisierer als eine Art Hoch-Romani durchzusetzen. In Shutka wird dieses „grammatikalische Romani“ fakultativ in der Grundschule unterrichtet und ist auch der „Dialekt“, der von den beiden Roma-Fernsehsendern BTR und Sutel TV verwendet wird. Das heißt, dass diejenigen, die nicht der Gruppe der Arli entstammen und regulär in mazedonisch unterrichtet werden, ihre eigene Muttersprache, die Roma-Zunge nicht unbedingt verstehen, wenn sie fernsehen. Safets Neffe Adrian schaut deshalb in den beiden Fernsehsendern, die im Romani senden, nur die Nachrichten, denn die sind auf Mazedonisch. „Chinesisch“, sagt er „ist einfach, Romanes ist schwer.“

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Was ist es, das Shutka und seine Bewohner so besonders macht? Die Gastfreundschaft der Menschen? Ihre Mischung aus Widerspenstigkeit und Anpassungsfähigkeit? Die Bewohner Shutkas lassen sich genauso wenig einkategorisieren wie ihre Sprache. Zu vielschichtig, heterogen und divers ist ihre Kultur. Roma sind Lebenskünstler, Sprachkünstler, Wandlungskünstler. Wie Chamäleons passen sie sich ihrer Umgebung an. Man könnte sagen, sie haben ein unbewusstes Faible für die Schauspielerei – für die professionelle Schauspielerei, denn sie sind auch imstande, wieder aus ihrer Rolle zu schlüpfen, wenn ihre Darstellung zu Ende ist. Sie sind Meister der Kommunikation und last but not least nicht nur fliegende Teppich-Händler, sondern auch fliegende Wort-Händler. Sie wechseln, wenn es die Situation erfordert, virtuos von ihrem eigenen Dialekt in den ihres Nachbarn, von der Sprache der Mehrheitsbevölkerung in der sie leben, in die einer fernen Region. Diese Fähigkeit verdanken sie einem einfachen aber besonderen Umstand, den sie mit Ethnologen gemein haben: ihre Arbeit setzt voraus, dass sie ständigen Kontakt zu den verschiedensten Menschen suchen.

Der Artikel wurde veröffentlicht in: “Shutka Shukar – Zu Gast bei Roma, Ashkali und Ägyptern” (2009). Bernhard Streck (Hg.), erschienen im Leipziger Universitätsverlag




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